Noch ist alles still. Früh am Morgen in der Nebensaison erwacht in Comacchio das Leben erst spät. Nur wenige Touristen haben sich im Frühjahr bereits hierher verirrt. Umso wohltuender zeigt sich das sanfte Gemüt der Landschaft. In Comacchio und Lido di Spina geht es nicht darum, ein Programm rasant zu absolvieren, vielmehr beginnt der Urlaub hier mit dem Sicheinlassen auf die Langsamkeit. Daher ist auch das Fahrrad das Fortbewegungsmittel der Wahl. Auf den gut ausgebauten Wegen entlang der Lagunen fühlt man sich eins mit der Natur. Es wartet eine mentale Auszeit samt körperlicher Aktivität, die den Hunger auf die allerbeste Cucina Povera anfeuert.
Zwischen Aalen und Flamingos
Vielleicht ist der Parco Delta del Po kein weißer Fleck mehr auf der Landkarte, dennoch beschleicht uns das Gefühl, hier noch Unentdecktes zu finden. Bevor der Camping- und Badetourismus an der Adriaküste in den Sommermonaten so richtig Fahrt aufnimmt, begegnen wir im Wonnemonat Mai kaum einer Menschenseele in den Lagunen von Comacchio. Vom Fahrradsattel schweift der Blick über das weite Grasland, durch das hier und da Flussarme ziehen, deren Mittelpunkt die Valli di Comacchio bilden.
Die Landschaft sah nicht immer so aus, erklärt uns unser Guide. Bis um 1920 beherrschten circa 60.000 Hektar Wasserlandschaft das Gebiet des 1988 gegründeten Nationalparks. Zwischen den Armen des Pos bildeten sich kleine Inseln sowie die Valli, die Brackwasserseen, ein Gemenge aus Süß- und Salzwasser, in dem sich Aale besonders wohlfühlen. Aal war das Nahrungsmittel Nummer eins in diesem einst isolierten Gebiet. Und trotz weltweiter Rückgänge seines Bestandes findet der geneigte Genießer allerlei Aalgerichte auf der Speisekarte traditioneller Restaurants.
Das Leben in den Lagunen war nicht sorglos und unbeschwert. Es bewegte sich im Wachstumszyklus der Aale. Einmal im Jahr, kurz bevor der Aal zu seiner Wanderung durch den Atlantik aufbricht, wurde er gefischt. Wie identitätsstiftend Aal bzw. Fisch für die Region ist, kann man bei der Manifattura dei Marinati sehr gut in Erfahrung bringen. Seit 120 Jahren werden hier Fische konserviert, allen voran Aal. Zugleich ist die Fischfabrik ein Heimatmuseum. Nicht ganz ohne Stolz wird in dem Museum auch von der filmografischen Vergangenheit Comacchios und der Manifattura erzählt. Carlo Ponti drehte 1955 hier seinen Film „La Donna del Fiume“ mit Sophia Loren in der Hauptrolle. Seit dem Filmdreh ist der Säulengang Comacchios berühmt.
Unsere kleine Gruppe radelt weiter um die Valli di Comacchio. Es geht vorbei an den Zuchtstationen für Doraden und Meeräschen. Ein Stück weiter sucht eine stattliche Flamingo-Population im Brackwasser nach Leckerbissen. Was für ein Anblick! Überhaupt kommen ornithologisch Interessierte im Delta auf ihre Kosten. Die kleine Insel Boscoforte ist ein Eldorado für Vogelbeobachtungen. Mehr als 300 Arten sollen ihre Heimat im Po-Delta haben. Wie wir erfahren, legte man das Gebiet ab 1920 trocken. Der Fischfang wich dem Ackerbau. Von den einst 60.000 Hektar Wasseroberfläche blieben 12.000. Daraus resultierte der Rückgang der Biodiversität. Heute fragt man sich: War das richtig, was wir damals gemacht haben?
Zwischen Etruskern und Cucina Povera
Am Horizont ist schon der Rote Turm der Salina zu sehen. Einige Ausflugsboote sind unterwegs zu den Orten der Aalfischerei. Das sind die traditionellen „Lavoriero“. Diese fest im Wasser stehenden Fischfallen sind bis heute in Betrieb. Ihr Catch of the Day kommt fangfrisch in die Restaurants. In diesen gelangen Fisch und Aal in den unterschiedlichsten Zubereitungsvarianten auf den Tisch. Jede Familie hat ihr Geheimrezept. Meist werden Salat und Polenta zum Fisch gereicht oder als Risotto serviert. Natürlich darf gebratener Aal nicht fehlen, zu dem eine Flasche Fortana del Bosco Eliceo Frizzante geöffnet wird. Dieser Sandwein ist im Delta gewachsen, und was soll man sagen, er passt ausgezeichnet zu dem hohen Fettgehalt des Aals.
So einfach die Gastronomie auch daherkommen mag: Das Essen ist fantastisch. Es fühlt sich an wie eine Einladung bei guten Freunden. Diese Italiener! Sie verstehen etwas von Gastfreundschaft und gutem Essen. Die Verschnaufpause vom Radeln kann mit einem Besuch im Freiluft-Archäologie-Park Spina verlängert werden. Es tut gut, sich ein wenig die Füße zu vertreten. Der archäologische Park ist ein junges, von der EU gefördertes Projekt. Anhand eines nachgebauten etruskischen Dorfes wird die Bedeutung des Gebiets in der Eisenzeit, also um 800 v. Chr., aufgezeigt.
Zum guten Schluss stapfen wir ein paar Stufen den Aussichtsturm hinauf und erfreuen uns erneut an der Weite der Landschaft. Während ein Vogelschwarm gerade vom Boden abhebt und in die Ferne aufbricht, steigen wir wieder aufs Rad. Entschleunigung pur, ein geschenkter Tag, der mit seiner Langsamkeit freie Räume im Herzen füllt. Radfahren im Po-Delta lehrt uns den Genuss der Einfachheit. Die Gemächlichkeit, die diese Region inne hat, ist ein klarer Kontrast zur nimmermüden Geschäftigkeit unseres Alltags. Sich Zeit nehmen können – was für ein Luxus!
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