Philipp Hübl (*1975) ist ein deutscher Philosoph, Autor und Publizist. Er beschäftigt sich mit Themen wie Sprache, Wissenschaft, Ethik und Gesellschaft. Ihn charakterisiert insbesondere die Fähigkeit, philosophische Theorien mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu verbinden und jene komplexe Themen einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Im September 2024 wurde er für sein Buch Moralspektakel in Lech mit dem Tractatus-Preis ausgezeichnet. Die Jury lobte seine empirisch fundierte Analyse der aktuellen Diskussionskultur und seine Kritik an moralischer Selbstdarstellung. Aus diesem Anlass führten wir mit Philpp Hübl ein Interview.
Exklusives Interview mit Philipp Hübl – Gewinner des Tractatus-Essay-Preis 2024
Annett Conrad: Herr Hübl, als Erstes beglückwünsche ich Sie, nunmehr Preisträger des Tractatus 2024 zu sein. Was bedeutet es für Sie konkret, als Gewinner des Tractatus-Essay-Preises des Philosophicum Lech hervorgegangen zu sein?
Philipp Hübl: Ich fühle mich sehr geehrt, zumal ich bei zwei früheren Preisträgern Vorlesungen und Seminar besucht habe: Peter Bieri und Herbert Schnädelbach.
Annett Conrad: Mit Ihrem ersten, im Jahr 2012 erschienenen Buch „Folge dem weißen Kaninchen“ landeten Sie bereits auf der Spiegel-Bestsellerliste und erhielten dafür den Mindelheimer Philosophiepreis. Welchen Stellenwert messen Sie dem Tractatus-Preis bei, als Anerkennung Ihrer Leistung als Philosoph und Autor sowie als Würdigung des Themas in Ihrem Buch „Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht“?
Philipp Hübl: In den Geistes- und Sozialwissenschaften kann man allzu leicht zwei Irrwege einschlagen, den in den Obskurantismus und den in den Aktivismus. Viele Intellektuelle haben sich verrannt und verstiegen, und sich so selbst am klaren Denken und Schreiben gehindert. Daher freut es mich, dass die Jury eine evidenzbasierte Gesellschaftsanalyse ausgezeichnet hat, vor allem da es meine eigene ist.
Annett Conrad: Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Hass und Hetze im Netz, Fake News und dem Rechtsruck in unserer Gesellschaft. Sehen Sie Ihr aktuelles Buch als zwangsläufige Folge Ihrer Beobachtungen und Forschungen?
Philipp Hübl: Der Rechtsruck, also der Erfolg der Rechtspopulisten in Europa aber auch die autoritären Rückschläge in Ländern wie Russland, der Türkei oder dem Iran sind Reaktionen auf den weltweiten „Linksruck“, also die schnelle progressive Wende zu immer mehr Freiheit, Gleichheit und Demokratie, die man vor allem in den westlichen Ländern in den letzten 20 Jahren bei der Mehrheit der Menschen beobachten konnte. Die Traditionalisten fechten mit Begriffen wie „Umvolkung“, „Islamisierung“ und „Impfdiktatur“ einen Kulturkampf aus, bei dem es eigentlich um etwas anderes geht: Status und Anerkennung, von denen sie meinen, zu wenig zu haben. Der Trotz rührt aber auch daher, dass progressiven Wortführer oft ein Moralspektakel aufführen, dass nicht mehr der Gerechtigkeit, sondern einzig der Selbstinszenierung dient.
Annett Conrad: Was hat Sie dazu bewegt, Moralspektakel zu schreiben? Gab es ein bestimmtes Ereignis oder eine Beobachtung, die den Anstoß für dieses Buch gegeben hat, und inwiefern hat Ihre eigene moralische Überzeugung Ihr Schreiben beeinflusst? Gibt es ethische Dilemmata, die Sie persönlich besonders herausfordern?
Philipp Hübl: Viele kleine Beobachtungen im Alltag passten zu der Forschung in der Anthropologie und Psychologie, dass wir Menschen nach Status streben, vor allem nach Prestige, also Anerkennung, die uns andere freiwillig zukommen lassen. Und dazu gehört eben auch das moralische Prestige. Wir wollen unserer moralischen Gruppe die richtigen Signale senden, um dazuzugehören und vielleicht sogar bewundert zu werden. Am rechten Rand will man besonders selbstsicher und tough erscheinen, am linken hingegen sensibel und einfühlsam. Leute der „kreative Klasse“, die an Universitäten, in der Kultur, in den Medien und innovativen Unternehmen arbeiten sind mehrheitlich progressiv und wollen das allen anderen auch zeigen. Kuriose Phänomene wie Opferhochstapler, Cancel Culture, das Streben nach moralischer Reinheit und den Erfolg von halbverstandenen Buzzwords wie „Mikroaggressionen“, „Trauma“ oder „toxische Männlichkeit“ kann man mit einer
Statustheorie der Moral gut erklären.
Annett Conrad: Herr Hübl, inwieweit ist unsere Gesellschaft getrieben von Doppelmoral und Populismus, und was können wir dagegen setzen?
Philipp Hübl: Die meisten Menschen in Europa sind ehrlich, weltoffen und liberal. Wir mögen Heuchler nicht und auch nicht solche Menschen, die zur moralischen Effekthascherei neigen. Die populistischen Parteien betreiben eine besondere Form der Selbstdarstellung, die man als ebenfalls Heuchelei bezeichnen könnte. Rechtspopulisten verwandeln das Empfinden von Zurücksetzung und Statusverlust ihrer Wähler in einen Protest gegen die Eliten. Doch sie verfolgen dabei oft politische Programme, die vollständig umgesetzt, ihre eigenen Wähler benachteiligen würden.
Annett Conrad: Wie wir feststellen konnten, beschäftigen Sie sich in Ihrem aktuellen Buch intensiv mit dem Phänomen der Moral und ihrer Rolle in der modernen Gesellschaft. Was ist die zentrale Botschaft, die Sie Ihren Lesern vermitteln möchten?
Philipp Hübl: Im Alltag neigen wir zur moralischen Vereindeutigung, wir wollen die Welt in Gut und Böse einteilen; und wir neigen zum Stammesdenken, wir halten unsere Gruppe für edel, die anderen Gruppen hingegen für niederträchtig. Doch wenn man mit dem philosophischen Blick auf die Welt schaut, sieht man: Moralische Fragen, zu denen auch viele Fragen des Rechts und der Politik gehören, sind komplex, haben Graustufen, und sie erfordern Nachdenken sowie eine Gewichtung von Werten und Rechten, um ein ausgewogenes Urteil zu fällen. Wir müssen also auch im Alltag eher wie ein Richter denken, der abwägt und nicht wie ein Inquisitor, der sein Urteil immer schon kennt.
Annett Conrad: Inwiefern glauben Sie, dass Auszeichnungen wie der Tractatus-Preis dazu beitragen, philosophische Themen in der breiten Öffentlichkeit sichtbarer zu machen und deren Relevanz zu unterstreichen?
Philipp Hübl: Preise und Stipendien sind natürlich ebenfalls Prestige-Marker, im Idealfall für gute Qualität und nicht allein für die vermeintlich richtige Haltung. Viel entscheidender ist allerdings, dass Philosophie als Orientierungswissenschaft und als Ausbildung im kritischen Denken, oder wie ich sage in Bullshit-Resistenz, mehr Anerkennung erhält als noch vor 20 Jahren – und auch notwendig ist im Zeitalter der großen Umbrüche.
Annett Conrad: Hat die Auszeichnung mit dem Tractatus-Preis Einfluss auf Ihre zukünftigen Projekte und Publikationen? Gibt es bestimmte philosophische Fragen, die Sie in nächster Zeit vertiefen möchten?
Philipp Hübl: Etwas, das mich seit Jahren beschäftigt und das sich durch alle meine Bücher zieht, ist die Frage, wann wir wirklich autonom, also selbstbestimmt handeln. Zum einen gibt es da die große Debatte um den freien Willen. Doch selbst wenn man als Libertarier sagt: „Wir sind oft genug frei in unseren Entscheidungen“, stellt sich gerade in Zeiten sanfter und unmerklicher digitaler Manipulation immer noch die Frage „Wie frei denn?“ Darüber werde ich sicher noch gründlicher in Zukunft nachdenken. Ich kann nicht anders.
Ich danke Herrn Hübl für die aufschlussreichen Antworten und freue mich schon jetzt auf seine Gedanken zum Thema Freiheit persönlicher Entscheidungen.
FrontRowSociety Herausgeberin Annett Conrad führte dieses Interview mit dem Philipp Hübl im Oktober 2024.
Moralspektakel bietet eine erfrischende Perspektive auf überhitzte moralische Diskurse und lädt zur Reflexion über universelle Ethik ein. Hier geht es zu der in unserem Magazin erschienen Rezension über das Buch Moralspektakel.
Über den Tractatus-Preis: Der Tractatus-Preis wird seit 2009 verliehen. Er ist eine Auszeichnung des Philosophicum Lech, das erstmalig 1997 stattfand, und würdigt herausragende philosophische Essays, die sich durch Verständlichkeit, Aktualität und intellektuelle Tiefe auszeichnen. Der Preis zählt zu den bedeutendsten internationalen Auszeichnungen für philosophische Literatur.