Ute Cohen und ich kennen uns seit ihrer Teilnahme bei meinen Nordwalder Biografietagen, wo es zu einem jährlich wechselnden Thema um den Austausch von Lebensgeschichten und Lebenserfahrungen geht. 2019 hieß dieses „Macht und Missbrauch“. Ute Cohen war in ihrer Jugend vom Vater ihrer besten Freundin missbraucht worden und hatte darüber ein bewegendes und empfehlenswertes Buch geschrieben. Wir stellten schnell fest, dass trotz der Schwere des Themas wir beiden eine große Passion für die Leichtigkeit des Seins pflegten und Genuss in fast jeder Form das beste Mittel gegen persönliche oder auch gesellschaftliche Tristesse bedeutet. Dazu gehört auch eine wahrhaftige Gesprächskultur. Hier in kulinarischer Form und aus Anlass ihres aktuellen Buches „Der Geschmack der Freiheit – Eine Geschichte der Kulinarik“, erschien bei Reclam am 19.07.2024.
Matthias Grenda führte mit Schriftstellerin und Kulturjournalistin Ute Cohen ein exklusives Interview.
Exklusives Interview mit Schriftstellerin und Kulturjournalistin Ute Cohen
Matthias Grenda: Wie war Deine persönliche kulinarische Erweckung?
Ute Cohen: Schön, dass Du diesen Begriff verwendest! In Erweckung schwingt so viel mehr mit als in Erfahrung, ein Erwachen der Sinne, eine Lebendigkeit, auch etwas Spirituelles! Man fühlt sich zugehörig zu einem Kreis der Eingeweihten. Man sagt ja, der Geschmack der Kindheit – das ist der Proust Effekt – lasse Welten erstehen. Prousts Madeleine ist für mich der Apfelstrudel meiner Mutter. Ich erinnere, wie sie den Teig ausrollte, gegen das Licht hielt, um seine Konsistenz zu prüfen – das Licht, ich sehe es vor mir! – wie sie Nüsse mahlte und Äpfel hobelte. Der Duft frisch gebackenen Strudels versetzt mich zurück in meine Kindheit, dann bin ich wieder ein fränkisches Apfelmädchen, begreife, wie Genuss ein Zusammenspiel vieler Dinge ist.
Matthias Grenda: Essen und Trinken und vor allem Geschmack waren schon immer standesabhängig. Wie und wann kam die Freiheit als Zutat dazu?
Ute Cohen: Liberté! Freiheit auch in der Kulinarik ist ohne die Französische Revolution nicht denkbar. Die Revolutionszeit steht nicht nur für die Abschaffung des Ancien Régime, den Bruch mit den Ständen und alten Eliten, sondern auch für ein gleichberechtigtes Miteinander. Findige Wirte erkannten den Bedarf an neuen Orten gesellschaftlichen Austausches. So entstanden die ersten Restaurants als Quell und Hort bürgerlicher Freiheit. Lieber war dem Citoyen die Qual der Wahl als die Devise „Friss oder stirb!“. Essen wurde von der schieren Notwendigkeit zum Pläsier erhoben. Dazu trugen auch die arbeitslos gewordenen Köche aus Adelshäusern bei. Rustikalität und Raffinesse gingen eine pikante Mélange ein.
Matthias Grenda: Wie in vielen anderen Bereichen erleben wir heute eine Spaltung. In der Kulinarik auch. Hier Fertiggericht, internationales Fast Food, dort Kochkurse beim Sternekoch. Verlieren wir gerade unsere kulinarische Identität? Oder muss die Ideologie (vegan, Gluten frei etc.) wieder raus aus dem Mund?
Ute Cohen: Uh, auf Identität reagiere ich allergisch! Das Wort ist immer mit Grenzziehung verbunden, mit einer Unabänderlichkeit. Die Kochkunst aber lebt vom Wandel, von reizvollen Verbindungen. Ich stimme Dir aber zu, dass wir vor lauter Bowls den Blick für das Einzelne verlieren. Da verhält es sich ähnlich wie mit dem Individuum, das ja auch in Kollektivkunst und Kollektivliteratur aufgehen soll. Ich plädiere für eine Rückbesinnung auf die Ingredienzien, Stil und Form. Besinnt man sich dann noch auf kulinarische Tradition, ist man ziemlich resilient gegen Küchenideologien.
Matthias Grenda: Köche oder besser deren Gerichte sind auch eine Form von Kommunikation. Wird hier noch richtig kommuniziert oder werden diese heute noch verstanden?
Ute Cohen: Es gibt ja viele Arten der Kommunikation und verschiedene Rezipienten. Kochen als Kommunikation ist keine Frage von richtig oder falsch. Ich würde Kochen lieber als eine Art der Verführung bezeichnen. Man muss die Molekularküche nicht verstehen in all ihren wissenschaftlichen Details, man darf sie auch als ein poetisches Universum begreifen. Man muss die Intention des Kochs nicht verstehen. Kochen übt manchmal eine unerklärliche Anziehungskraft aus und verspricht gerade dadurch einen besonderen Genuss. Wobei ich der Überzeugung bin, dass Wissensdurst und die Lust an auch kulinarischer Erkenntnis dieses Vergnügen am Genuss noch steigern.
Matthias Grenda: Universum ist ein schönes Stichwort. Wie wichtig sind heute noch kulinarische Entdeckungsreisen, wo die Welt doch so klein geworden ist und alles überall verfügbar scheint?
Ute Cohen: Die Welt ist vielleicht ein Dorf, aber das Dorf noch lange nicht die Welt. Wenn wir uns zufrieden geben würden, mit dem, was wir vorfinden, dann wäre das ein Rückschritt. Zur bürgerlichen Freiheit gehört es, wählen zu können und eigene Wege zu beschreiten. Eine kulinarische Reiseroute zu entwerfen und Etappe für Etappe selbst zu bestimmen, öffnet die Sinne für Neues, Unbekanntes. Das funktioniert natürlich nur, wenn einem das Reisen nicht vergällt wird durch explodierende Kosten und die Fisimatenten der Bahn zum Beispiel.
Matthias Grenda: Warum hat die Branche so einen schlechten Ruf in Bezug auf Nachwuchs? Eigentlich ist es doch ein Beruf nah an unserem archaischen Grundbedürfnis.
Ute Cohen: Ein wesentlich archaischeres Bedürfnis aber ist die sofortige Lustbefriedigung, von der Faulheit ganz zu schweigen (lacht) Scherz beiseite! Küchenarbeit ist ein Knochenjob, der schon manch einen zum Verzweifeln brachte. Ich hoffe darauf, dass einerseits an einer Restrukturierung der Branche gearbeitet wird, andererseits aber auch dem Nachwuchs klar wird, dass Genuss Arbeit bedeutet. Wie sagte Goethe so schön: „Wer aber recht bequem ist und faul, / flög dem eine gebratne Taube ins Maul, / er würde höflich sich’s verbitten, / wär sie nicht auch geschickt zerschnitten.“
Matthias Grenda: Können wir noch Genuss?
Ute Cohen: Genießen ist ein urmenschliches Bedürfnis. Dass Genuss aber auch Kunst ist, ist eine Erkenntnis, die verloren geht. Dazu trägt natürlich bei, dass alles sofort verfügbar ist und in Nullkommanix geordert werden kann. Allerdings ist das eine nur vorgetäuschte Vielfalt, die bei Weitem nicht an die eigene Experimentierfreude, an gemeinsames Kochen mit Freunden und kulinarische Expeditionen heranreicht. Der Weg ist das Ziel – das gilt auch in der Küche.
Matthias Grenda: In welcher kulinarischen Zeit fühlst Du Dich am wohlsten? Was schmeckt Dir und Deiner Persönlichkeit am besten?
Ute Cohen: Das wandelt sich bei mir im Laufe des Lebens. Es gab Phasen, in denen ich mich durch etliche Sternerestaurants durchgekostet habe – von Taillevent bis Michel Roux, vom L’Arpège bis zu Lucas Carton. Manche gibt es heute gar nicht mehr. Auch an exzessiven Privatevents habe ich teilgenommen mit einem Grand Vin de Château Latour aus dem Jahre 1964, mit Mouton-Rothschild aus dem Jahre 1961 und diversen Trüffelspeisen. Das war exzeptionell und a bisserl dekadent auch! Diese Epoche war ein besonderer Teil meiner kulinarischen Bildung. Heute genieße ich – da stehe ich nicht allein da – gern die einfachen Dinge des Lebens, die schlichten, aber wunderbar zubereiteten Gerichte.
Matthias Grenda: Ist Frankreich noch das Maß aller Dinge? Oder wer ist heute auf dem kulinarischen Olymp?
Ute Cohen: Frag das mal einen Franzosen! Mein Herz schlägt französisch, die Antwort wäre also klar. Aber nein, so einfach ist es nicht. Das Maß aller Dinge gibt es nicht mehr, in einer Welt, die flache Hierarchien propagiert und den Anspruch an Qualität leichthin als elitär abtut. Andererseits ist das auch eine Konsequenz der Französischen Revolution: Gleichheit gilt als erstrebenswertes Ideal. Wir vergessen jedoch dabei, dass Gleichheit in einem Spannungsverhältnis mit der Freiheit steht. Die Götter auf dem Olymp dürfen, ja, sollen ruhig provoziert werden. Wo die Rebellen stehen, in einer multipolaren Welt, mal schauen!
Matthias Grenda: Der Gast hat sich verändert. Er schaut 3 Kochsendungen und glaubt Restaurantkritiker zu sein. Brauchen wir eine kulinarische Bildungsoffensive?
Ute Cohen: Ach, und Couchpotatoes halten sich für Lionel Messi? Na und! Das ist doch menschlich! Ich finde es gut, dass große Köche den Gast zum Träumen bringen. Eine gesunde Selbsteinschätzung ist natürlich auch nicht zu verachten und sozial verträglicher als kulinarischer Hochmut. Gefährlich wird’s, wenn vernichtende Kritiken ins Netz geschossen werden, ohne dass auch nur ein Funken Bildung darin zu erkennen wäre. Geschmack und Kritik setzen Kenntnis voraus. In Frankreich gibt es nicht umsonst die „semaine du goût“, wo bereits Schulkinder mit Kulinarik vertraut gemacht werden. Das stünde uns auch ganz gut an.
Matthias Grenda: Mein alter Freund, der legendäre Ganovenschauspieler Rolf Zacher sagte mir mal, dass es heute keine Schauspieler mehr gibt, sondern nur noch Menschen, die spielen Schauspieler zu sein. Gilt das auch für Genießer? Ich erlebe so wenige wirklich lustvolle Esser in letzter Zeit.
Ute Cohen: Da ist was dran! Es gibt ja auch den Begriff des „Politikerdarstellers“ (seufzt). In einer Welt, in der Bilder mehr zählen als Fakten, genügt es oftmals, wenn man so tut als ob. Oh, yes, I‘m the great pretender … (singt). Na ja, wer den Genuss nur vorspiegelt, tut sich keinen Gefallen. Irgendwann bricht das Kartenhaus dann zusammen und der Genuss bricht sich Bahn. Hoffe ich doch!
Matthias Grenda: Es geht im Buch auch um das Thema Kulinarik & Erotik. Was darf ich dort lesen?
Ute Cohen: Psst! Ein bisschen Geheimnis ist die Würze der Erotik. Im Buch gibt’s ein ganzes Kapitel dazu. Der Marquis de Sade wird auch ein Wörtchen mitreden. Für Apologeten der political correctness ist dieses Kapitel nicht, wohl aber für diejenigen, die Spaß an Zungenfertigkeit und Bonmots haben. Ich konnte nicht anders! Heinrich Heine hab‘ ich auch ein Plätzchen bereitet. Mich amüsiert, wie er sich Frauen und Mockturteltauben munden lässt, mir gefällt’s, wenn uns Dichter kulinarisch-erotische Erregungshäppchen servieren.
Matthias Grenda: Das Tischgespräch ist eine ganz eigene Kunst. Mit wem würdest Du gerne einmal so richtig lustvoll essen und plaudern? Und warum?
Ute Cohen: Bei dieser Frage beschleicht mich Melancholie. Es wäre ein Gastmahl meiner Toten. Meine Eltern, Freunde … Die frisch geschabten Spätzle meiner Mutter stünden auf dem Tisch, Apfelküchle mit Zimt und Zucker. Wir würden uns zulächeln, wortlos verstehen. Kennst Du diese Sehnsucht? Weißt Du, ich plaudere, interviewe, kokettiere und parliere von Berufs wegen und aus Herzenslust. Ich habe mit Michel Houellebecq beisammen gesessen, gegessen und getrunken, über die großen Themen, über Liebe und Tod, gesprochen. Das war ein Traum von mir und er ist wahr geworden. Manches jedoch …
Matthias Grenda: Deine Aussicht auf die Zukunft der Kulinarik der nächsten 20 Jahre?
Ute Cohen: Der Blick in die Glaskugel zum Schluss? Ich liebe Überraschungen. Allerdings hoffe ich nicht, dass es eine Neuauflage der cucina futurista geben wird. Marinetti und seine Compagnons würden uns ganz schön auf den Magen schlagen. Oder hättest Du Lust auf ein pollofiat, ein mit Stahlkugeln gefülltes Fiat-Huhn?
Auf den Geschmack gekommen, sich weiter dem Thema Kulinarik zu widmen? Hier geht es zu unserer Rezension: „Der Geschmack der Freiheit – Eine Geschichte der Kulinarik“ von Ute Cohen.
Matthias Grenda führte das Interview mit Schriftstellerin und Kulturjournalistin Ute Cohen.
Matthias Grenda verfügt über langjährige internationale Erfahrungen als Medienschaffender, Event-, Entertainment- und Kommunikationsberater, ist Kommunikationstrainer (IHK) und Gründer und Vorsitzender der gemeinnützigen Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. Er initiierte mit dem Verein 2008 die Nordwalder Biografietage, ein deutschlandweit einzigartiges Veranstaltungsformat, bei denen zu einem Leitthema prominente und alltägliche Biografien präsentiert werden und ein Austausch von Lebensgeschichten und Lebenserfahrungen stattfindet. Er und die Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. wurden dafür vom Kreis Steinfurt mit dem Kulturpreis 2017 ausgezeichnet.