Mecklenburg-Vorpommern – Land am Wasser: mittendrin und zur Hälfte drumherum.
Inzwischen weiß das jedes Kind zwischen Haff und Elbe, Ostsee und Müritz. Per Kajak zum
Beispiel lassen sich preiswert, nerven- und umweltschonend nutzen: sage und schreibe 340
Kilometer Ostsee-Außenküste, 1.130 Kilometer Bodden- und Haffküste, 60 Inseln, 2.013
Seen und 26.000 Kilometer Fließgewässer. Da ist für jeden Geschmack alles drin. Karl-Heinz Müller, waschechter Stralsunder und immer hilfsbereiter Heilgeistkloster-Nachbar, kratzt sich den Kopf: „Soll ich dich hier durchlassen?“ Breitbeinig, die Hände in die Seiten gestemmt, steht er am Stralsunder Querkanal und schaut von oben herab aufs Wasser. Nach Feierabend bedient der Hobbyskipper die in holländischem Stil gehaltene Zugbrücke.
Vom Winde verweht
Seekajak „PERO“ braucht diesen Service nicht. Er und sein Kapitän passen mühelos unter der Brücke hindurch. Nur wenn Nordostwind den Sund aufraut, steigt der Pegel und nimmt die Kopffreiheit ab. Dann tänzelt das 27-Kilo-Seekajak in der kabbeligen Ausfahrt zwischen den Hafenmauern. Von „Seh-Leuten“ skeptisch beäugt. „Ist das nicht zu wackelig?“, hört man hinter sich her rufen, bis man den Nordhafen unterm Kiel hat und weitere Kommentare vom Winde verweht werden. Rechts schmatzen und gluckern die Wellen an den Flanken der Frachter, die ungerührt Getreide, Schrott und Gips laden. Daneben kommt sich der Kanute dann allerdings doch reichlich winzig vor.
Glänzende Stille
Die Signale der Ziegelgrabenbrücke zeigen rot. Das kratzt den Kajak-Kapitän nicht. Hindurch also! Schreck von oben, als der DB-„Flirt“-Express nach Saßnitz über die Gleise rattert. Kurswechsel zur Insel Dänholm. Gerade hat das Mehrzweckschiff „Arkona“ zum
wöchentlichen Besatzungswechsel gegenüber vom Nautineum festgemacht. Auch hier ein
kurzer Gruß nach oben: Man kennt und respektiert sich. Schließlich hat „PERO“ schon
Spitzbergen- und Grönland-Erfahrung auf dem Buckel. Nur Rostklopfen muss man auf dem
4,90 Meter langen Kunststoff-Kreuzer nicht, denn die Farbe hält ein Kajak-Leben lang.
Der Dänholm-Kanal glänzt durch Stille. Ein paar Fischer lassen ihre Netze nach nächtlichem
Heringsfang in der Morgensonne trocknen. Voraus jetzt das Rügendamm-Fahrwasser.
Gedenksekunde vor dem Spülfeld der Halbinsel Drigge im Südwesten Rügens: Am 30. April
1945 wurde hier das jetzige Museums-Segelschulschiff „Gorch Fock“ (I) auf 13 Meter
Wassertiefe versenkt.
Amazonas-Gefühle
Aus dem Uferwald weht der Wind Vogelstimmen herüber. Sie locken wie Sirenen an Land.
Von Eis und Wellen rundgeschliffene Granitsteine blockieren den Kurs. Slalomfahrt ist
angesagt, bis die Paddelblätter sich in den Sand bohren. Bei knapp zehn Zentimetern Wasser unterm Kiel knirscht es: gelandet! Das macht dem Kajak so leicht kein anderer Bootstyp nach: einsame, kaum zugängliche Uferzonen und Strände an den flachen Sund- und Boddenküsten anzusteuern.
Angespültes Strandgut gibt Fragen nach dem Woher auf: ein halber blankgescheuerter
Bootsmast, Fischkisten, Tauwerk. Wie unberührt dagegen der „Urwald“ am westlichen Saum der Halbinsel Drigge. Der Eindringling muss durch mannshohes Unterholz staken, das umgestürzte Bäume noch undurchdringlicher machen.
Robinson am Sund
Vom Rand des Kliffs schweift der Blick hinüber zum gotischen Turmfiligran der Hansestadt.
Nur die himmelblaue Schiffbauhalle der Volkswerft und ihre gelben Spielzeugkräne scheinen es zentimeterknapp zu überragen.
Vor Steinort, dem Südkap von Drigge, klatschen grüne Sundwellen rhythmisch auf den
Strand. Der Wind greift ins Schilfrohr, dass es nur so rauscht, geheimnisvoll wispert und
knistert. Vogelgezwitscher schmettert aus den blühenden Büschen. Hier lässt es sich nach
einer guten Stunde und rund sechs Kilometern Körpereinsatz trefflich pausieren: Picknick mit Klappstulle und doppeltem Appetit. Auch ein Mittagsschläfchen kann man sich gönnen oder, bei entsprechenden Temperaturen, baden gehen: FKK natürlich. Der Kajak-Robinson vom Sund lässt grüßen.
Nach rund zwölf Kilometern ist Feierabend: im Langenkanal am „PERO“- Liegeplatz auf der Bootswerft von Jürgen Thomzik. Ein Tag voller Alltagsabenteuer und in fast absoluter coronabedingter Stille geht zur Neige – mit nassem Hintern und Salzmustern auf der Haut. Die beste Prophylaxe und Immunisierung gegen das Virus, das so recht keine frische Luft mag.