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Kaum tritt man aus dem Haus, ist man Gotland schon sehr nahe: beim Schritt über die
Türschwelle. Zumindest ist das so im mittelalterlichen Stralsunder Heilgeistkloster 7. Sie
nämlich besteht aus hartem gotländischen Kalkstein, der durchsetzt ist mit Millionen von
Jahre alten Fossilien.

Auf rund 176 Kilometer Länge und 50 Breite ballt sich Erstaunliches zusammen:
Naturwunder, Geschichte und Weltkulturerbe, 60.000 Schafe, aber nur 60.200 Menschen.
Und das auf einer Fläche, die dreieinhalb Mal so groß ist wie Berlin und 55 mal so groß? wie
Stralsund.

Heilgeistkloster Nr. 7 2. Haus v.r. obere Reihe Stralsund aus dem 16. Jahrhundert
Das Heilgeistkloster aus dem 16. Jahrhundert / © FrontRowSociety.net, Foto: Christian Rödel

„Feuerzangenbowle“ und Goten

Entstanden vor rund 430 Millionen Jahren im Erdaltertum. Damals war es auf der Erde
wärmer als heute. Im tropischen Silurmeer lebten viele Kleinlebewesen wie zum Beispiel
Korallen. Als sie abstarben, sanken sie auf den Meeresboden. Mit Schlamm, Salz und Algen
wurden sie zu einer Sedimentschicht verbacken, die immer höher wuchs und einen gewaltigen Druck erzeugte. Im Laufe der Zeit wurde daraus eine mehrere hundert Meter hohe Schicht. Als sich vor rund 10.000 Jahren die bis zu drei Kilometer mächtigen Gletscherpanzer der Eiszeit zurückzogen, wurde das Land entlastet und hob sich – sogar heute hält das noch an – bis jetzt 82 Meter hoch, schneller als der Meeresspiegel anstieg. Diese Zeit, das Silur oder „Gotlandium“, war die Geburtsstunde der Insel Gotland, an der heute die Wellen der Ostsee nagen und gemeinsam mit der Witterung fantastische Formen in den Kalkstein fräsen.

Alle Welt kennt den Film „Die Feuerzangenbowle“. Aber wie hängen der ??? und Gotland
zusammen? Bestimmt tauchen jetzt aus den Babenberger Punsch-Nebeln sofort Studienrat Dr. Brett und der Oberprimaner Rudi Knebel auf. In dieser Geschichtsstunde geht es um die Frage nach dem Ursprung der Goten, einem germanischen Stamm. Johannes Pfeiffer führt
schließlich seinen in Not geratenen Klassenkollegen per Taschenspiegel über die Wandkarte
zu Schwedens größter Insel, zweitgrößte der Ostsee nach dem dänischen Seeland.
Wir sind gespannt auf die Begegnung mit dem Land der Goten. Vielleicht kann man auch in
ein paar Erkundungstagen einen Eindruck davon bekommen, warum Ingmar Bergman die
Insel Farö zu seiner Wahlheimat machte und wo? Pippi Langstrumpfs „Villa Kunterbunt“ steht. Neugierig geworden?

MS DROTTEN steuert Gotland an
MS DROTTEN steuert Gotland an / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther
Gespannte Aufmerksamkeit auf der Brücke
Gespannte Aufmerksamkeit auf der Brücke / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Vom Mittelalter bis „Villa Kunterbunt“

Wenn die Destination-Gotland-Fähre DROTTEN von Rostock kommend in den Hafen der
24.330-Einwohner-Inselhauptstadt Visby einläuft, präsentiert sich das von einer 3,6 Kilometer langen Stadtmauer umschlossene Ensemble zum ersten Mal in seiner beeindruckenden Geschlossenheit.

Nur ein paar Schritte vom modernen Terminal am Holmen entfernt, und man taucht ein ins
Mittelalter. Der historische Stadtkern wurde 1995 von der UNESCO als Weltkulturerbe
geadelt: weil es „nur noch wenige Orte auf der Welt“ gebe, „in denen Vergangenheit und
Gegenwart so harmonisch verwoben“ seien wie in Visby. Augenfällig abzulesen am
mittelalterlichen Straßennetz mit seinen schmalen Gassen und Gewölben, den durch
Plünderungen und Brände im 13. Jahrhundert entstandenen neun Kirchenruinen, 27
mächtigen Wehrtürmen, der Holzstadt aus dem 18. Jahrhundert oder den Packhäusern, als
Visby ein wichtiges Handelszentrum der Hanse war. Wenn man sich im Länsmuseum einen
Turmschlüssel ausleiht und ein paar Treppen nach oben kraxelt, wird man mehr als belohnt: mit einem eindrucksvollen Blick über die Welterbe-Stadt. Alljährlich im August tobt
mittelalterliches Leben zwischen den Mauern, wenn Gotland sein berühmtes
Medeltidsvekkan, die Mittelalterwoche, feiert.

Nicht verpassen sollte man Kneippbyn knapp fünf Kilometer an der Küste südwestlich von
Visby. Heute eine Art Erlebnispark für Kinder und ihre Eltern. Gedreht wurden hier an
Originalschauplätzen die Filme über die freche Göre Pippi Langstrumpf und ihr Äffchen
„Herr Nilsson“. In der „Villa Kunterbunt“ kann man sogar die Schreibmaschine bewundern,
auf der Astrid Lindgren ihre phantasievollen Geschichten schrieb.

In-einer Gasse der Oberstadt
In einer Gasse der Oberstadt / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Zwischen Wikingern und „Szenen einer Ehe“

Weiter geht es auf der Landstraße 148 nach Nordosten. Schon nach 20 Kilometern passiert
man den verschlafenen 300-Seelen-Ort Tingstände. Die alten Wikinger lassen grüßen.
Grabungen haben Schätze gehoben und Siedlungsreste freigelegt, die darauf schließen lassen, dass sich hier eine wichtige Versammlungsstätte – ein germanischer Ting – befand.

Steinkreisgrab der Wikinger im Museumsdorf Bunge
Steinkreisgrab der Wikinger im Museumsdorf Bunge / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther
Eine der vielen hölzernen Windmühlen
Eine der vielen hölzernen Windmühlen / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Nach 20 weiteren Bummelkilometern kann man sich in Bunges Freilichtmuseum ein
anschauliches Bild machen von gotländischer Bauernkultur. Nicht nur dort, denn deren
hölzerne und kalksteinerne Zeugen in Gestalt von einer Vielzahl von Windmühlen aller
Typen und schilfgedeckten Schafställen sind überall zu sehen. Manchmal wähnt man sich in
der afrikanischen Savanne, wenn man sie auf den spärlich bewachsenen Heideflächen
entdeckt.

Off road Fahrt durch eine savannenähnliche Landschaft
Off road Fahrt durch eine savannenähnliche Landschaft / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther
Die Fähre nach Farö in Farösund
Die Fähre nach Farö in Farösund © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Kurz danach endet die Straße am Wasser. Per Fähre wird in wenigen Minuten der Farösund
gequert – und man rollt über eine weitere Insel: Farö. Im gleichnamigen Örtchen Farö weisen Schilder auf Ingmar Bergman hin, über dessen filmisches Lebenswerk man sich in einem Museum am Straßenrand informieren kann. Seine aufrüttelnden Werke sind weltbekannte Klassiker: „Das Schweigen“, „Szenen einer Ehe“, „Wilde Erdbeeren“ oder „Eine Leidenschaft“, eng verbunden mit den Namen Liv Ullmann, Bibi Andersson und Max Sydow.

Als Bergman 1960 zum ersten Mal hierher kam, war er begeistert: „Hell, erschreckend,
eigenartig erregend“. Das mag auch ein Motiv gewesen sein für die deutsch-schwedische
Krimiserie „Der Kommissar und das Meer“ mit Walter Sittler. Ihre Teams logierten im
Feriendorf Sudersand direkt hinter dem weiten Dünenstrand. Eine Anlage, die allen
Ansprüchen und Urlaubswünschen gerecht wird. Nicht weit entfernt die Kirche, auf deren Friedhof der Regisseur (1918-2007) und seine Lebenspartnerin, die Schauspielerin Ingrid Bergman (1915-1982), in der Nordwest-Ecke begraben liegen. Zwei Weltbürger, die Farö zum bevorzugten Drehort und ihrer Wahlheimat machten.

Insel Farö bei Suderstrand
Insel Farö bei Suderstrand / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Sudersand – Traumstrand und mehr

Für uns ist Sudersand das Ziel, knapp zehn Kilometer nordöstlich. An einem der schönsten
Strände der Insel sowie ganz Schwedens liegt das Feriendorf, schwedisch „semesterby“
genannt. Hier findet jeder eine passende Unterkunft, von der einfachen bis zur modernen
Hütte, ob Zeltplatz, Jugendherberge oder Camper-Stellplatz. Wer es hingegen ganz einsam
möchte – ein Tipp am Rande -, dem sei ein Bondestugan empfohlen, eines der liebevoll
restaurierten Bauerhäuser mitten in der Natur, die heute als exklusive Ferienwohnungen
gemietet werden können. Während der Vor- und Nachsaison ist man klar im Vorteil, denn in dieser ferienfreien Zeit hat man auch den Dünen-Traumstrand, bis auf ein paar Strandläufer, fast für sich allein. Nur ganz wenige Mutige zieht es jetzt auch ins Wasser. Aufwärmen kann man sich dann am prasselnden Kaminfeuer bei einem Glas Rotwein, zum Beispiel in einem der „Parstuga“-Häuschen in Strandnähe. Und den nächsten Tag planen. Farö steht auf dem Programm, vor allem seine Küste. Nur ein kleiner Teil dessen, was Gotland an insgesamt 800 Kilometern zu bieten hat.

Nur sechs Kilometern Fahrt durch den einsamen, windgebeugten Ullahau-Kiefernwald und
vor einem reckt sich der Leuchtturm Farö fyr in die klare Luft. Hervorragende Landmarke,
wenn ein Schiff die Insel aus Nordosten ansteuert. Der Fuß des 28 -Meter-Turms ist von
meterhohen Fliederhecken umkränzt. Anfang Juni, auch Zeit des hellen Lichts, duften sie
geradezu betörend.

Das Leuchtfeuer von Farö an der Nordostspitze
Das Leuchtfeuer von Farö an der Nordostspitze / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther
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Das Raukar-Steinfeld im Norden von Farö / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Auf den Spuren der Raukar

Weiter geht´s über Skär an der strandgesäumten Nordküste entlang, zurück auf die
Inselhauptstraße und bei Mölnor direkt nach Norden. Nach etwa sieben Kilometern und ein
paar Metern Fußweg vom Parkplatz ragen sie vor einem aus den Klappersteinfeldern auf: die Riesen-Raukar von Langhammars, bizarr geformte Kalksteinsäulen mit über zehn Metern Höhe. Wind und Wellen haben lange gebraucht, um sie aus dem Gestein heraus zu
präparieren, das sich nach der letzten Eiszeit um bis zu 82 Meter aus dem Meer hob.

Die kleine Fischersiedlung Helgomannen im Norden von Farö
Die kleine Fischersiedlung Helgomannen im Norden von Farö / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Auf der malerischen Küstenstraße folgen wir der faszinierenden Spur der Raukar, Sie führt
immer am Wasser entlang. Seh-Pause an dem Häuflein bunter Fischerhütten von
Helgumannen. Hier wird scheinbar noch mittelalterlich gefischt und gelebt. Die auf den
Strand gezogenen Holz-Klinkerboote warten hier auf ihren nächsten Einsatz.

An Land gezogene Fischerboote von Helgomannen
An Land gezogene Fischerboote von Helgomannen / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Die nächste Stein-Show schließt sich nahtlos an: Digerhuvud, größte Raukar-Ansammlung
von Gotland auf über drei Kilometer Länge. Farö ist hier Spitzenreiter. Insgesamt gibt auf
Gotland 14 solcher Monument-Arenen mit bis zu 27 Meter Höhe. Fährt man schließlich über Lauter weiter und biegt am See Farnavik nach rechts ab, erreicht man nach rund fünf Kilometern das Naturreservat um den halbmonförmigen Gamlahamn, den 1000 Jahre alten Wikingerhafen, einer von fünfzig, mit den Überresten der St. Olaf Kirke.

Vom 7. Jahrhundert an siedelten und handelten die Wikinger auf der Insel, die von den
Hansekaufleuten im 11. Jahrhundert verdrängt wurden. Nach einer kurzen Wanderung durch Krüppelkiefer-Gehölz über einen von der Brandung hoch aufgeschütteten Strandwall mit reichhaltiger Vegetation staunt man vor dem wohl berühmtesten Rauk, der einen Torbogen bildet und als Symbol, wegen seiner Form nur „Kaffeepannan“/„Kaffeekanne“ genannt, überall für Gotland wirbt. Fotomotive bieten sich auch hier jede Menge.

Das goldene Kalksteinfundament

Der nächste Gotland-Schnuppertag führt uns wieder über den Farösund am Basteträsk, dem größten von 20 Gotlands Seen, entlang nach Kappelshamn mit seinen weißen Hügeln, dem „Gold der Insel“.

Frachter liegen von Staubwolken umhüllt an der Pier und laden Kalk. Der wurde hier schon im Mittelalter von Bauern in kleinen Meilern – einer steht sogar in Stralsund – gebrannt als Grundlage für die Zementherstellung, die noch heute einen hohen wirtschaftlichen Wert hat. Ein paar steinerner Brennöfen kann man heute als Industriedenkmäler besichtigen. So auch in Barläst vor der Insel Asunden gegenüber von Slite, wo heute das größte Werk große Mengen produziert und weltweit verschifft. Ein Tafel am kleinen Hafen erklärt sehr anschaulich Abbau und Transport der Steine. Auch die schwierige Verladung auf Segelschiffe, die die Häfen der 225 Hansestädte anliefen. Das Resultat kann man heute an den Fundamenten ihrer Kirchen bewundern. Sie stammen sämtlich aus Gotland, auch die der Stralsunder Marien-, Jacobi- und Nikolaikirche. Am Langenkanal erinnern Steinblöcke und Stelen noch daran, was hier einst umgeschlagen wurde.

Der Küstenwald glüht im Sonnenaufgang / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Leider hat die Kalkbrennerei auch zur Entwaldung Gotlands geführt. Eine savannenähnliche
Heidelandschaft mit Wacholderbüschen breitete sich hier aus. Bevorzugt beweidet von den
typischen sehr robusten Gotlandschafen.

Schon das Baumaterial für den Dom von Lund, der von 1103 bis 1145 errichtet wurde,
stammte aus gotländischen Steinbrüchen, den Stenbrott. Natürlich vor allem auch die
gewaltige Ringmauer von Visby mit ihren markanten Türmen und der dreitürmigen Sankt
Marienkirche, die deutsche Hanse-Kaufleute errichten ließen wie auch die Heilgeistkirche.
An der Kappelhamnsviken entlang führt der Weg rund acht Kilometer durch malerische
Waldalleen, von Wiesen und Weiden unterbrochen, zur Nordspitze Gotlands: Hallshuk, ein
kleines, idyllisches Fischerdorf mit gewaltiger Steilküste im Rücken und weitem Blick über
die Ostsee.

Die Piste durch den Klippenwald
Die Piste durch den Klippenwald / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Sechs Kilometer Schotterpiste mit Südwest-Kurs bis Häftings. Hier zweigt in einer
Linkskurve rechts der Wanderweg ab nach Häftingsklint. Ein schmaler, wildromantischer
Pfad führt hügelauf und -ab durch artenreiche Heide- und Waldlandschaft, die von Orchideen überwuchert zu sein scheint, bis man wieder das alles überlagernde Rauschen der See hört. Die brandet Nord- und Westwindgegen das hohe Kliff. Nicht ganz leicht zu finden, aber eine lohnenswerte Mühe von zwei Stunden. Gotland hat uns inspiriert: Die nächste Reise gilt dem von uns unerforschten riesigen Rest der größten schwedischen Insel.

Letzter Sonnenuntergang vor der Abreise in der Sudersand
Letzter Sonnenuntergang vor der Abreise in der Sudersand / © FrontRowSociety.net, Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther

Information zu MS „Drotten“

MS „Drotten“ (ex „Gotland“): Baujahr: 2003; Werft: GSI, China; Länge: 196,10 m; Breite: 25,6 m; Tiefgang: 6,4 m; BRZ: 29.746; Antrieb: 4 x Wärtsilä 12V46C à 12.600 kW, gesamt-PS: 70.000; Geschw. (max): 31 kn; Passagiere: 1.400; Crew: 40; Kabinen: 115; Lademeter: 1.650; Reederei: AB Gotland; Flagge: Schweden; Heimathafen: Visby; IMO-Nr.: 9223796; Schwesterschiffe: „Visborg“ (2019), „Gotland“(2020); „Visby“ (2003); die beiden Schnellfähren „Gotlandia“ und „Gotlandia II“ gehören zwar zur Reederei, sind aber keine Schwesterschiffe

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